INTERVIEW

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Front 242 Interview: Genug neue Songs, noch keiner komplett fertig

Nach dem zweiten ihrer beiden im Juli endlich nachgeholten Jubiläums-Shows in Brüssel rezitieren Richard 23 und Jean-Luc de Meyer eine lange Dankesliste, zollen auch dahingeschiedenen Weggefährten und Wegbereitern Tribut, etwa Gabi Delgado, Richard H. Kirk und Andy Fletcher. Knapp zwei Monate vor dem plötzlichen Tod des Depeche-Mode-Keyboarders waren es die Fans von Front 242, die den Atem anhielten. Jean-Luc im Krankenhaus, Zustand kritisch, Band in großen Sorgen, Terminabsagen: Wie Schockwellen verbreitete sich die alarmierende Kunde von einer schweren Krankheit des Frontmanns.

Aber am 8. Juli standen die EBM-Pioniere schon wieder auf der Bühne. Das Ancienne Belgique rappelvoll, beide Sänger augenscheinlich top-fit. Nur augenscheinlich? Tatsächlich, wie Richard 23 bestätigt! Nach drei weiteren Shows in England und Schottland spielten Front 242 am letzten Juli-Wochenende beim E-Only Festival in Leipzig. VOLT traf den unermüdlichen Anheizer in der Hotel-Lobby, sprach hauptsächlich über Gegenwart und nähere Zukunft, die detaillierte Pläne bis weit nach 2023 und womöglich gar die Veröffentlichung neuer Songs einschließt.

Seid ihr gut angekommen?

Wir fahren immer mit dem Auto nach Leipzig, Fliegen mögen wir nicht. Außerdem ist ein Flug nach Leipzig immer etwas problematisch, da es keinen Direktflug gibt. Ich habe das mal ausprobiert – wir fahren jetzt lieber. Aber die Strecke ist auch nicht schön. Ab Köln standen wir im Stau.

Hattet ihr dann gestern einen schönen Abend?

Daniel Myer hat uns einen Laden empfohlen, dort haben wir fantastisches Sushi gegessen. Sehr nett und nur ein paar hundert Meter vom Hotel entfernt. Im Anschluss bin ich aber direkt ins Bett gegangen.

JEAN-LUC KANN WIEDER ALLES GEBEN

Als ihr im Ancienne Belgique 40 Jahre Front 242 gefeiert habt, sah Jean-Luc sehr gesund aus, vielleicht sogar energiegeladener als je zuvor. Wie geht es ihm?

Es ist ganz genau so! Wir wussten nicht, was uns bei der ersten Show erwarten würde. Wir sagten zu ihm, dass wir schon glücklich wären, wenn er nur hinter dem Mikro stehen und singen würde. Er sagte nur „wir werden sehen“. Nach zwei Songs habe ich ihn dann angeschaut und dachte nur „fucking hell“! Er ist also definitiv zurück und es geht ihm gut.

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Wird Daniel B. jemals zum Live-Line-Up zurückkehren?

Er ist in Rente gegangen. Im Ancienne Belgique war er nicht mal anwesend. Er übernimmt keine aktive Rolle mehr bei Front 242, aber ist noch immer ein Mitglied. Seine letzte Show war im November 2018 und das war’s. Mit fast 70 Jahren ist er der älteste in der Band. Er hatte auch ein paar gesundheitliche Probleme, daher lässt er es jetzt ruhig angehen und macht sein eigenes Ding. Er hatte auch die Nase voll vom Rumreisen. Und wenn man am Ende eine Sache nur noch macht, weil man sie machen muss, ist das nicht gut. Aber wir haben entschieden, auch ohne ihn weiterzumachen.

„In Hinblick auf die neuen Tracks versuchen wir, etwas zu machen, das heutzutage gut klingt, aber den Spirit unserer Anfangszeit innehat.“ Richard 23

Ihr macht weiter, in der Tat. Ihr habt sogar neue Songs produziert und schon in die Live-Sets integriert. Diese Songs und auch die neuen Live-Versionen gehen zurück zum ursprünglichen Front-Sound …

Nicht nur ein bisschen! Sie sind so nah dran, wie wir es nur ermöglichen konnten!

front 242 live copyright alexanderjung 2022 05

Das ist für Front 242 bemerkenswert, schließlich wart ihr immer diejenigen, die vorangegangen sind – und nicht ein einziges Mal zurück.

Dafür gibt es zwei Gründe. Der erste ist, dass wir nichts mehr beweisen müssen, wir nicht mehr der Zeit voraus sein müssen. Wir haben uns selbst auch nie als Vorreiter gesehen. Wir machen einfach unser Ding. Den Rest müssen die Leute entscheiden. Wenn man also 40 Jahre hinter sich hat, und man immer irgendwie der Zeit voraus war zu einem bestimmten Zeitpunkt, ist es sehr hart, immer weiter an der Front voranzugehen. Elektronische Musik ist in den letzten 20, 25 Jahre explodiert. Es gibt so viele Genres, jeder macht sie. Das ist auch der zweite Grund: warum sollten wir versuchen, den nächsten Sound der Zukunft zu machen? Wir hatten das Gefühl, dass es mehr Spaß machen würde, zurück zu unseren Wurzeln zu gehen, da wir uns im letzten Jahr sehr viel mit den alten Versionen beschäftigt haben. Wir wollten die Sachen wieder zu einem Ganzen vereinen. Es war für uns das Beste, wieder zu unseren Wurzeln zurückzukehren.

VOLLE KRAFT ZURÜCK!

Die aktuellen Live-Versionen klingen nahezu wie die Originale.

Wir haben auf alte Tapes von 1985, 87 und 89 zurückgegriffen, um den Sound von den damaligen Live-Gigs zu reproduzieren. Wir mussten aber hart arbeiten, damit das heute auch effizient klingt. Wenn man heute den alten Kram nimmt und einfach abspielt, würde sich das schwachbrüstig anhören, weil die Technologie und auch die PA-Systeme deutlich weiterentwickelt sind. Also haben wir eineinhalb Jahre hart daran gearbeitet, den Sound wieder zum Leben zu erwecken. Im Hinblick auf die neuen Tracks versuchen wir, etwas zu machen, das heutzutage gut klingt, aber den Spirit unserer Anfangszeit innehat.

front 242 live copyright alexanderjung 2022 02

Wie viele neue Songs habt ihr und in welchem Stadium befinden sie sich? Werdet ihr sie veröffentlichen?

Wir haben viele sehr große Fragezeichen. Wir haben genug Songs, aber nichts ist bisher wirklich fertig. Wir befinden uns in dem Stadium, in dem wir anfangen können, die neuen Songs zu produzieren und zu mixen. Die große Frage ist jetzt, wann wir das machen. Ich gehe davon aus, dass wir diesen August eine Entscheidung treffen werden, auch in der Hinsicht, ob wir mit anderen Künstlern arbeiten werden. Wir haben bereits mit Personen außerhalb von Front 242 zusammengearbeitet, bei den Tracks, die wir live spielen. Insgesamt waren sie an fünf Tracks beteiligt. Jetzt müssen wir uns entscheiden, wie wir weitermachen wollen. Aber das Material ist da. Ich finde, es klingt gut. Im Anschluss müssen wir dann entscheiden, wie viele Songs wir veröffentlichen werden. Wenn wir nicht zufrieden sind und keine zwölf Tracks zusammenkriegen, dann werden wir kein Album veröffentlichen. Aber wir könnten eine EP oder 12“ machen. Die Sache ist: wir haben keinen Druck mehr von irgendeiner Plattenfirma oder einer Karriere, die man machen möchte. Wir machen eins nach dem anderen. Ehrlich gesagt haben wir Jahre an diesen neuen Tracks gearbeitet, aber wir nehmen uns einfach die Zeit.

Der erste von zwei Auftritten im Ancienne Belgique wurden professionell von der Crew der Venue aufgenommen. Zuerst wurde gemunkelt, dass es sich dabei um ein Bootleg, gemacht von Fans, handeln würde – und man hatte immer ein wenig den Eindruck, dass Front 242 halbwegs liberal in Sachen Bootlegging unterwegs wäre.

Stimmt schon, wir hätten eine neue Live-DVD rausbringen können. Aber wir haben da keine Lust drauf. Wir haben das in der Vergangenheit gemacht, es gibt ein paar auf dem Markt. Aber so liberal sind Front 242 bei Bootlegs nicht. Wir haben Publisher, die der Sache nachgehen. Aber, ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass irgendein Bootlegger Millionen verkauft. Und ja, einige dieser Bootlegs sind ziemlich berühmt, zumal sie jetzt auch über Social Media verbreitet werden. Aber wenn ein Bootlegger 500 Copys verkauft, wird ihn das nicht reich machen, zumal die Aufnahmen meistens schlecht sind. Okay, manche klingen auch gut – aber das hilft auch dabei, die Band im Gespräch zu halten. Die Leute reden darüber. Persönlich verfolgen wir die Bootlegger nie, aber unsere Verlage machen das.

 

Zu 40 Jahren Front 242: Ganz am Anfang haben Presse und andere Bands euch belächelt, sogar diskreditiert. Jetzt seid ihr noch immer hier, sehr erfolgreich, habt sogar Kult-Status erreicht und den Weg für neue musikalische Wege geebnet. Ist das im Rückblick eine Art Befriedigung?

Ja, auf gewisse Weise. Wir haben nie auf diese Leute gehört. Und, ganz klar, hätten wir auf diese Leute gehört, würde es Front schon lange nicht mehr geben. Ich erinnere mich noch, als 1983 Endless Riddance mit Take One rauskam, gab es einen berühmten belgischen Journalisten, der für eins der bekanntesten Magazine geschrieben hat. Er sagte, dass der Sound, den wir machten, genau das Gegenteil davon sei, von dem er glaubte, dass das Musik sei. Er schrieb, dass alles schlecht sei, aber zum Schluss sagte er nur noch, dass er glaubt, er kämpft hier eh gegen Windmühlen an – und genau so war es auch. Dieser Typ ist komplett von der Bildfläche verschwunden, ich weiß auch nicht, was er jetzt arbeitet. Und wir sind noch immer hier. Wenn wir damals also seine Kritik gelesen und gedacht hätten, dass er Recht hätte und wir aufhören sollten, dann hätte es uns seit 1983/84 nicht mehr gegeben.

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Negative Kritiken interessieren euch also null?

Wir glauben, dass eine schlechte Kritik, eine schlechte Review, besser ist, als gar keine. Als ich ein Teenager war und in einem Magazin gelesen habe, dass ein Album besonders schlecht sei und die Band nicht spielen könnte, dann fand ich das immer interessant und habe genauer hingesehen, welche Band das ist. Das war beispielsweise so bei The Stranglers. Die Presse hat am Anfang ihrer Karriere sogar geschrieben, dass das Nazis seien. Dasselbe mit The Sex Pistols. Die Presse schrieb, sie könnten nicht spielen. Aber ihre Energie ist unfassbar! Und ich denke, es war dasselbe mit uns. Die Fans wussten, dass da irgendwas abgeht. Und die Presse hatte komplett Unrecht damals. Und das ist heute zum Teil noch so, denke ich. Aber für uns war es eher wie ein Katalysator. Negative Kritiken haben uns gezeigt, dass wir in die richtige Richtung gehen.

„Negative Kritiken haben uns gezeigt, dass wir in die richtige Richtung gehen.“ Richard 23

Apropos Richtung: Es gibt Gerüchte, dass dies jetzt eine Art Abschiedstour sei. Ist das so?

Noch nicht.

Vielleicht könnt ihr trotzdem was über eure Pläne verraten?

Wir sind für Konzerte bis Ende nächsten Jahres gebucht. Im Januar beginnen wir unsere Tour mit Nitzer Ebb. Das hatten wir eigentlich schon für 40 Jahre Front geplant, aber wegen Covid und dem ganzen anderen Scheiß kam es nicht dazu. Erst jetzt sind wir in der Lage, diese Dates zu spielen! Wenn das alles gutgeht, werden wir davon noch mehr machen. Die Promoter rennen uns die Türen ein, weil sie wollen, dass wir auch bei ihnen in dieser Kombination spielen. Wir schauen mal, wie es so läuft. Wir spielen schon zwei oder drei Shows im Herbst mit Nitzer Ebb in den Staaten; wir treten auf denselben Festivals am selben Tag auf. Wir kommen gut miteinander aus und sind befreundet, das sollte also alles okay laufen. Aber man weiß es nie. Jedes Wochenende auf der Bühne … wenn das alles gut geht, dann spielen wir mehr Shows mit Nitzer. Und wir haben sogar schon Buchungen für 2024er Festivals. Es ist also noch nicht das Ende.