REZENSION

Boy Harsher „Careful“

Boy Harsher „Careful“

Rezension

Album // Nude Club Records

Liebe, Sex und Zärtlichkeit haben schon viele um den Verstand gebracht. Außerordentlich Kluge ebenso wie mental weniger großzügig Bemittelte. Gleiches gilt für Leid, Lust und Leidenschaft. Beide oftmals unselig wirkende Dreieinigkeiten gingen auch an Boy Harsher nicht spurlos vorüber.

Jae Matthews und Gus Muller verbindet seit Jahren eine Beziehung, die über rein Berufliches hinausgeht. Zeitweise gefährdeten persönliche Unstimmigkeiten die gemeinsame musikalische Karriere. Es gab Tage, an denen die beiden nicht miteinander sprachen. Matthews ließ sich einst sogar das Wort Careful tätowieren. Es war eine Botschaft, genauer gesagt eine Warnung vor den zerstörerischen Kräften der Liebe.

Wirklichkeitsflucht ist (k)eine Lösung

Mit den Arbeiten an ihrem zweiten Album änderte sich manches. Careful sollte fortan keine Warnung mehr sein, sondern die Verarbeitung persönlicher Schicksalsschläge symbolisieren, mit denen Matthews und Muller in ferner und jüngerer Vergangenheit konfrontiert wurden. Jaes Vater starb, als sie fast noch ein Kind war, ihr Stiefvater verlor 2017 sein Leben. Kurz darauf erkrankte Jaes Mutter, eine Alkoholikerin, an einer Demenz. Den langsamen Abschied von ihr bezeichnet Matthews als einen Prozess chronischen Leidens.

Mit dem Ende bzw. den Wandlungen dieser schwierigen familiären Beziehungen änderte sich das musikalische Selbstverständnis der Band, die zur selben Zeit damit begann, die Weichen für ihr zweites Album zu stellen. Die genannten Probleme beeinflussten den kreativen Prozess, und so wurde Careful zu dem, was es ist: ein Album, dessen Songs die Geschichte zerrütteter Beziehungen erzählen. Ein musikgewordener Impuls, allem und jedem zu entfliehen. Hätten Boy Harsher nicht längst einen Song namens Pain geschrieben und veröffentlicht, wäre es jetzt an der Zeit, dies zu tun.

Klanglich unterscheidet sich Careful kaum von früheren Boy-Harsher-Veröffentlichungen. Die Band setzt weiterhin auf ebenso repetitiven wie düsteren und tanzbaren, minimalistisch arrangierten Synth Wave. Inhaltlich widmen sich Jae und Gus jedoch einer anderen Art von Schmerz als bisher. Nachdem sich auf der EP Lesser Man und auf dem Debütalbum Yr Body Is Nothing vieles um emotionale Reaktionen auf vergangene Ereignisse drehte, richten Boy Harsher den Blick jetzt nach vorn. Jae und Gus verstehen Careful als eine Beschreibung jener Gegensätze, ohne die Liebe nicht auskommt: Angst und Freude, Zärtlichkeit und Schmerz.

Die Songs handeln von traumatischen Erlebnissen, von dem Drang danach, einfach von der Bildfläche zu verschwinden und von der damit einhergehenden Melancholie. The Look You Gave (Jerry) ist nach Jaes verstorbenem Stiefvater benannt. Auch die vorab veröffentlichte Single Fate bringt die Kernbotschaft auf den Punkt: Verlusterfahrungen zu machen, ist unausweichlich. Daraus ergibt sich die Erkenntnis, dass nichts für die Ewigkeit ist, selbst Careful nicht – obwohl das neue Boy-Harsher-Album tatsächlich, und das ist die überaus erfreuliche Nachricht, wunderbar zeitlos klingt. (Kai Reinbold)


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